Kirn. Stadt des Bieres, der Steine und des Leders; – so lautete Jahrzehnte als Reminiszenz historisch der Beiname für die Stadt Kirn. Tausende Menschen arbeiteten in Kirn auch im Steinweg oder in der Kallenfelser Straße, wo Jakob Müller, die Vitaborn, die Brauerei oder Pöhlmann Stahlbau Standorte waren. In den 1960-er Jahren gab es in Kirn acht Metzgereien und in der Binger Landstraße ein Schlachthof, wo weit über 200 Schweine und über zwei Dutzend Stück Großvieh, Woche für Woche geschlachtet wurden.

Und Leder? Da war doch was! Kirn war mit weiteren acht Betrieben, darunter  auch Jakob Müller, deutschlandweit Hochburg in der Lederwarenbranche, bis Ende der 1970-er und 80-er Jahre der Zusammenbruch kam. Altvordere „Portefeller“, Portefeuiller oder Feintäschner, wie man den handwerklich hochgeschätzten Berufsstand der Lederarbeiter nannte, konnten es sich nicht erklären und nicht verkraften, wie man in den 1960-er Jahren eine hochwertige Brieftasche, eine Aktenmappe oder ein Portemonnaie billiger in Fernost produziert an Nahe und Glan kaufen konnte, was hier der Erwerb des Rohleders kostete. Viele Lederarbeiter oder der jahrzehntelange Vorsitzende des weltweit einzigartigen Kinder Handwerksgesellenverein von 1880, Hans Zahn, demonstrierten bis in die 1990-er Jahre die Lederherstellung einer breiten  Öffentlichkeit. Hunderte Familien in der Region verdingten sich beim Loh´machen, weil man die junge Eichen-Rinde zum Tierhäute gerben brauchte, um Leder zu erzeugen. Den Kirner Schulklassen wurde dies unterhalb Schloss Wartenstein jedes Jahr im Mai gezeigt, als die Eichen „voll im Saft“ standen.

Beim Loh`-machen verdingten sich einst viele Familien. Hier im Oberhauser Wald / Schloss Wartenstein

Nach dem Abriss der Jakob Müller Produktionsstätten in den 1990-er und um die Jahrtausendwende (Millennium) kaufte im Dezember 2014 die Stadt Kirn an der Peripherie der Kallenfelser Straße für 50.000 Euro letzte freie Parkflächen – die Ära des Kirner Lederwarenfabrikanten war endgültig ad Acta gelegt.

Erinnerungen an die Leder-Hochburg Kirn: Chronisten und Zeitzeugen wie Dr. Ulrich Haut ( Foto oben, geb. 8.8.1945 in Kirn – 7.8.2023 Koblenz), der Naheland-Kalender, die Kirner Zeitung, stern, oder im September 1966 im Feuilleton „Die Reichen Deutschlands“ im SPIEGEL sagten dem gelernten Maurer in Kirn an der Nahe ein patriarchisches Verhalten nach, dass er beim Aufbau seiner deutschen Leder- und Produktionszentralen einen Bauwillen an den Tag legte, die Erinnerungen an die „Reichszeugmeisterei“ wachrufe. Müller profitierte von Nachkriegs- und Wirtschaftswunderjahren war Allrounder, Koch & Kellner, alles in einer Person: Strippenzieher & Stepper, Ein- & Verkäufer, Bürokaufmann. 1927 kaufte er sich eine erste Steppmaschine und alle in der Familie, Vater und Geschwister, arbeiteten mit. Mit dem Eintrag ins Gewerberegister begann 1927 unter dem Namen „Lederwarenfabrik Jakob Müller. Einzelfirma“ ein steiler Aufstieg. Zuvor waren Simons und Böckings, Adolf Kirst, Fritz Pies, Wilhelm Frey, Peter Herrmann oder Aloys Braun weltweit bekannte Adressen. Als er von der Lederwaren Firma Simon & Söhne 1934 im Kirner Teichweg Räume anmietete, beschäftigte er 34 Mitarbeiter, vier Jahre später, 1938, brachte er zehn Mal so viele, 350 Arbeitskräfte in Lohn und Brot. Noch vor dem Krieg baute er auf einem Freigelände in der Kallenfelser Straße eine Fabrik. Im Krieg produzierte er Ausrüstungsgegenstände für die Wehrmacht wie Gamaschen oder Feldflaschen. Nach dem Krieg war sein Betrieb kurzzeitig von den Franzosen beschlagnahmt – Müller galt jedoch als „politisch unbelastet“.

Sein Firmenimperium wuchs, mit einem Startkapital von 250.000 Reichsmark gründete er 1946/47 mit der Wormser Cornelius Heyl AG die Firma Renolit und stellte Folien aller Art und später Fußbodenbeläge her. 1954 wurde er Alleininhaber – die Kunststoffbranche boomte, Müller expandierte, kaufte das „Elaston-Werk“ in Bayern. 1956 arbeiteten in Kirn 1000 Menschen, 1960 ist der gelernte Maurer unter die „Häuslebauer“ gegangen, spezialisierte sich auf die „Renolit Haus GmbH“ – 1968 arbeiteten in Kirn in der Lederwarenbranche 1.244 Menschen, die aus den umliegenden Orten mit dem Bus abgeholt wurden. 25 Betriebe- 14 in Deutschland – zählten 1971 zum Firmenimperium, wo 8..000 Arbeiter im In- und Ausland für Jakob Müller arbeiteten. (Quelle: Naheland Kalender 1978 „Jakob Müller gelang der große Durchbruch“). Obwohl der zuweilen von engen Mitarbeitern als „sehr sparsam, zuweilen kleinlich und bescheiden“ bezeichnet wurde, der „sein Geld zusammenhielt“, kannten alle den stadtbekannten Mercedes 600, drei weitere Modelle mit dem Stern, VW, Opel Kadett und sein Eigenheim im Hohen Rech, das Blicken der Mitbürger entzogen und atomkriegstauglich gebaut war und einen Weinkeller beherbergte. Schließlich befürchtete Müller derart komfortabel ausgestattet Durst mehr als Krieg oder Heimweh. Er war den Kirnern in seiner Zeit weit voraus, pflegte einen High-Tech-Faible, indem er wie „Sesam-öffne-Dich“ einen Ultraschall-Sensor aufs Tor richtete, der einen komplexen Mechanismus auslöste.

Foto oben: Handwerksgesellen im Smart Werk in Frankreich. Sie und Chronisten berichteten, dass Jakob Müller (1901- 1976) weniger sozial eingestellt war als andere Kirner Firmenprotagonisten ihrer Zeit, aber den VfR 07 sponserte der „Müller-Job“, kaufte Jalousien für das Kirner Krankenhaus und die städtischen Kita´s. Den Bürgermeistern der Stadt Kirn ging er „distanziert“ und suspekt aus dem Weg, jedoch zu seinem 70.Geburtstag am 29. März 1971 erhielt er vom damaligen Stadtchef Gerd Danco den Wappenteller der Stadt Kirn. Als Jakob Müller nach einer OP in Mainz plötzlich 1976 im Alter von 75 Jahren verstarb, wurden Häuser und 100 Wohnungen von der „Wohnungs- und Siedlungsbau Jakob Müller“ in Kirn vorgehalten. Sein 50. Firmenjubiläum am 5. März 1977 zu feiern, war dem reichen Kirner Global-Player nicht vergönnt. Fotos: Bernd Hey.

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