Bad Sobernheim. „Frag nach, wo immer du Unrecht begegnest“- unter diesem Slogan der Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt stand 85 Jahre nach der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 die Ökumenische Gedenkfeier in der Felkestadt. Das menschenverachtende Massaker und Gemetzel der Hamas am 7. Oktober `23 und perfide Beifallsbekundungen hierzulande blieben nicht unerwähnt und waren wie Salz auf die offene Wunde. 

Veranstalter waren die beiden Kirchengemeinden, das felkestädtische Kulturforum und das Emanuel Felke Gymnasium (EFG), eine höhere Bildungseinrichtung gegen Rassismus; – auch die Polizei war präsent. Pfarrer Ralf Anacker begrüßte in der gut besetzten Matthiaskirche und zitierte Worte von Robert Habeck: „Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland vernichten wollte. Die Verantwortung unserer Geschichte bedeutet, dass Jüdinnen und Juden bei uns frei und sicher leben können. Dass sie nie wieder Angst haben müssen, ihre Religion und ihre Kultur offen zu zeigen. Genau diese Angst ist nun zurück“.

Schutz und Verantwortung gegen jede Art von Antisemitismus, Judenhass und Rassismus bekräftige in seiner Erklärung zum 9. November Präses Dr. Thorsten Latzel mit den Worten „Lasst uns jüdisches Leben schützen, wo immer es bedroht wird“. Dies rief Ralf Anacker ins Gedächtnis: „Meine Eltern und Großeltern wollten nur vergessen“, erzählte er; – die Reichspogromnacht vergessen und relativieren dürfe man nicht, unsere Generation, Jung und Alt, trage Verantwortung und müsse die Erinnerung daran wach halten. In diesem Kontext bekannte Anacker frank und frei, dass er erst jüngst mit Verlegung der Stolpersteine bewusst von den deportierten jüdischen Bürgern am Glan erfahren habe. Seelsorger verbreiteten in einem Trialog Denkanstöße, blickten zurück und ließen die Kinder der Opfer, Arie und Tamar zu Wort kommen, die mehrfach in der Felkestadt zu Gast waren. Und die Frage, wie es ihnen heute gehe, beantworteten sie „mit dem deutschen Wort beschissen“, berichtete Pfarrer Christian Wenzel mit einem Kloß im Hals. Musikalisch umrahmte in der Matthiaskirche der Kantor der Paul-Schneider-Gemeinde, Benedikt Schwarz, und brachte den Sologesang „Ose Shalom“ zu Gehör.

Schüler des EFG drückten in beklemmenden Anklagen „die unsägliche brutale Gewalt, zu denen Menschen fähig sind und sechs Millionen unschuldige Opfer“  aus. Und sie prangerten in einem flammenden Appell ihre „Wut und Fassungslos über die verstärkt aufkommenden Ausländerfeindlichkeit, Hassreden im Internet, Terror, Diskriminierung und Antisemitismus in unserem Land“ scharf an. Hass und Hetze zeige sich immer facettenreicher. Die Schüler untermauerten dies in ihrer inhaltsstarken und eindrucksvollen Präsentation mit Zahlen schwerer Delikte wie Volksverhetzung bis hin zur Körperverletzung. Schattenseiten müsse durch unsere Gesellschaft entgegengewirkt werden, denn die jüdische Religion gehöre zu unserem christlichen Erbe. An einer symbolisch-schwarzen Gestalt zeigten sie Lichtblicke auf, wie wichtig Zivilcourage und Menschlichkeit, das Hinschauen, Hinhören, Toleranz und Respekt sind.

Lektoren verlasen über 70 Namen der Holocaust-Opfer aus Meddersheim, Monzingen, Sobernheim, Staudernheim und Odernheim, die von den Nationalsozialisten gezielt verfolgt, misshandelt, verschleppt und ermordet wurden. Dabei handele es sich ausschließlich um Deportierte. Opfer, deren Namen man kenne – die Dunkelziffer auch in unserer Region sei viel höher, sagte auf Nachfrage des Öffentlichen Sascha Müller vom Kulturforum Bad Sobernheim; – er betrieb im Vorfeld umfangreiche Recherchen.

Durch die Großstraße ging es in die Wilhelmstraße zum Haus Ostermann, wo zehn Stolpersteine verlegt sind. Hier hielten die Teilnehmer inne und  lauschten den erschütternden Erinnerungen seiner überlebenden Bewohner, die Todesängste ausstanden, wie Sascha Müller im Handylicht verlas: „…um zwei Uhr nachts…weckten uns bewaffnete SS-Führer und begannen alles Sichtbare zu zerschmettern. Sie lachten, sangen und machten Witze, während wir in einer Ecke des Wohnzimmers kauerten…“. Mit der Axt zerteilten sie die Lieblingspuppe, warfen Mobiliar und die Einrichtung aus dem Fenster.

Vor der Synagoge empfing der Flötenkreis der evangelischen Kirche unter Leitung von Astrid Mann und spielte die Klezmer Balladen: „Das Land, in dem Milch und Honig fließen“ und „Die letzte Umarmung“. Noch vor dem Segen von Pfarrerin Alisa Barth entließ das Quintett die Besucher mit dem Tango „Eine Nacht in Jerusalem“ musikbegleitend zu Gesprächen in die Nacht oder ins Kulturhaus Synagoge, dessen erste Gedenkfeier vor 22 Jahren stattfand und wo der Thoraschrein mit den Portraits der Ermordeten offen stand.

Zum Foto: Vor dem gemeinsamen Marsch durch die Innenstadt mit Station am Haus Ostermann mit zehn Stolpersteinen in der Wilhelmstraße zum Kulturhaus Synagoge verlasen die Lektoren in der Matthiaskirche über 70 Namen und zündeten Kerzen für jüdische Mitbürger an, die deportiert, misshandelt, verschleppt und ermordet wurden.

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